Was ist die „Nachtzeit“ – darf man sich zurecht fragen!
Am 3. Sonntag nach Beschneidung haben wir beim Propheten (Jes. 29, 18) gelesen: „An jenem Tag hören alle, die taub sind, sogar Worte, die nur geschrieben sind, und
die Augen der Blinden sehen selbst im Dunkeln und Finstern.“ Im Dunkeln und Finstern etwas zu sehen, mag sich durchaus auf die Nöte und Schwierigkeiten unseres
Lebens beziehen. Wo der Spruch „des einen Leid, des anderen Freud'“ anwendbar ist, kann von einer wirklichen Bibelauslegung nicht die Rede sein. Das Dunkle oder
Finstere ist in den biblischen Schriften von besonderer Bedeutung.
Im Epistellied der Zeit nach Beschneidung singen wir aus dem Buch des Propheten
Jesaja (9, 1) den Vers: „Das Volk, das in Finsternis wandelte, sieht nun ein großes Licht...“, und zwar jenes Licht, welches über sich selbst sagte:
„Ich bin das Licht des Alls.“. Das Licht des ersten Schöpfungstages ist der Messias, der Christus unseres Glaubens, da die Entstehung von Sonne, Mond und
Sternen laut demselben Bericht des ersten biblischen Kapitels (Genesis) erst am 4. Tag der Schöpfungswoche bezeugt worden ist. Auch der Evangelist Johannes (9, 4f)
zitiert ein Wort Jesu, welches den biblischen Begriff von Tag und Nacht wiedergibt: „Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es
kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Ebenso verstehen die hebräischen Bibelausleger des
Alten Testamentes den Tag als jene Zeit, zu welcher Gott in Erscheinung tritt und wirkt, und die Nacht als eine Zeit, zu welcher Gott sich vom zeitlichen Geschehen abwendet. Der
Tag ist folglich nicht im Rhythmus von 12 hellen und 12 dunklen Stunden zu verstehen! Die Tageshelle bedeutet das Werk Gottes und die dunkle Tageszeit erfahren wir dann, wenn
der HErr auf die Geschicke seiner Schöpfung keinen Einfluss ausübt. Die Nachtzeit bedeutet jedoch mehrere Zyklen oder Stunden.
Am Abend dieser Weltzeit kam als Erstes die Stunde des Abendmahls. Vor seinem
Leiden stiftete Jesus von Nazaret das Sakrament als das wahrhaftige Bundesopfer. Ob wir die heilige Eucharistie nun morgens oder mittags feiern: – jederzeit ist sie der
Ausdruck jener Abendstunde der Weltzeit (Äon), zu welcher wir auch für das Leben in der Nacht gestärkt werden. Dieses Sakrament der Gemeinschaft (Communio) aller
Heiligen kräftigte die christlichen Märtyrer sowohl in der ersten Stunde der Nachtzeit, wie auch später. In ihrem Ungemach fragte sich keiner von ihnen: „Wo ist nun unser
Gott? Wie konnte das geschehen?“. Sie glaubten dem HErrn, dass er in jeder Not mit den Notleidenden ist, und nicht mit den Unterdrückern und Räubern. Zur 2.
Nachtstunde gehört ja das Erwachen der Raubtiere, welche auf Raub und Mord aus sind. Ihre Herrschaft ist aber nicht von Dauer! Sie erlahmen mit der fortschreitenden Nachtzeit.
So ist die Herrschaft der Mörder aus der 2. Stunde der nächtlichen Christenheit gefallen, wie auch die der weiteren Gewalttätigen, bis zu unserer heutigen
„Nachtstunde“.
In der Nacht treten aber auch die verschiedenen Wachen auf. In der Geschichte der
Kirche Jesu begegneten uns diese verschiedenen Zeiten, so z.B. die Zeit der Urkirche, solange die Apostel und ihre Schüler lebten und die Einsammlung der Christen nah und fern
durchführten. Zu ihrer Nachtzeit sprachen die Amtspropheten und die Apostel bewirkten Wunder, – es war so, wie es die Danksagung der Osternacht in der Anlehnung an die
prophetischen Schriften der Bibel besingt: „Und die Nacht wird wie der Tag erleuchtet sein!“. Zwar bringen die Nachtwächter keine Sonne mit, sondern nur die
Fackeln ihres Glaubens, aber dennoch sind wir durch ihre Erscheinung im Stande, die unterschiedlichen Nachtstunden wahrzunehmen, wie zuletzt in dieser unsrer Nacht die
fortgeschrittene Stunde der apostolischen Aussonderung in London von 1835.
Zur Nachtzeit gehört auch die nächtliche Stille, auch „Als das Lamm das
siebte Siegel öffnete“, da „trat im Himmel Stille ein, etwa eine halbe Stunde lang.“ (Off. 8, 1) Es wäre nicht nur mühsam, sondern auch
unzulässig, die biblisch-prophetischen Zeitangaben an unsre Zeitempfindung anzupassen oder so zu deuten, als wäre die konkrete Nachtstunde festlegbar! Nur finstre Geister
„fischen im Dunklen“ mit Lug, auch mit Selbstbetrug! Trügerisch ist es ebenso zu meinen, die Nachtstille umfasse nur eine halbe Stunde der Nachtzeit. Die ganze Nacht
kennzeichnet eine gewisse Nachtstille. Wenn wir nun in der Nacht gläubig erwachen, und uns der Geist der Stärke und des Glaubens erbaut, und nicht der Geist der Ohnmacht,
„Dann sind die Augen der Sehenden nicht mehr verklebt, die Ohren der Hörenden hören wieder zu.“ Ein solches Werk kündigt der Prophet Jesaja an und verleiht
ihm einen besonderen Namen und Charakter: „Der Edle aber plant nur Edles und tritt für das Edle ein.“, wie wir die morgendliche Lesung
beschließen.
Die Auflösung dieses Tagesgedankens liefert uns die abendliche
Lesung vor dem HErrn (2. Kor. 3, 1f): „Fangen wir schon wieder an, uns selbst zu empfehlen? Oder brauchen wir – wie gewisse Leute – Empfehlungsschreiben
an euch oder von euch? Unser Empfehlungsschreiben seid ihr; es ist eingeschrieben in unser Herz, und alle Menschen können es lesen und verstehen.“ Unsere Augen
wurden in der Nachtstille und im Finstern geöffnet, damit wir den Sinn des HErrn verstehen, und unsere Häupter sind enthüllt, damit wir sehen, was Gott vor der Morgenröte
bewirkt. Es drückt uns immer noch die Wahrnehmung der Nachtzeit, damit unsere Sehnsucht nach dem Morgen des abendlosen Tages stärker wird, nämlich unser Verlangen nach der
Wiederkunft Jesu Christi. Dem Glauben nach sind wir zu gläubigen Erstlingen geworden, welchen die Glaubensfrucht der Erstlinge geschenkt wurde, damit wir wie am Anfang leben und
wirken, um dann die Erstlinge zu genießen, die Frucht des Heils, wenn uns die Gottesschau ganz erfüllen wird. Und so werden wir die göttliche Lesung (Lectio divina) mit
dem 11. Vers beschließen: „Wenn nämlich schon das Vergängliche in Herrlichkeit erschien: die Herrlichkeit des Bleibenden wird es überstrahlen.“
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